Die zweite Erziehung lässt uns reifen
Der schnellste Weg etwas über sich zu erfahren, ist den eigenen Partner zu fragen. Der schildert wahrscheinlich mit großer Freude eine präzise Analyse dessen, was er an einem mag – und was nicht. Gerade in Beziehungen kann es sehr wertvoll sein, mehr über sich zu wissen, um zu verstehen, worüber sich der andere immer wieder aufregt.
Psychoanalytiker C.G. Jung sagt darüber „Im Spiegel des anderen, erkenne ich mich selber.“ Diese Erfahrungen mache ich in allen unseren Gruppen zur Persönlichkeitsentwicklung. Mein Gegenüber hilft mir dabei, meine Schattenseiten zu erkennen. Schatten sind nach Jung die Teile unserer Persönlichkeit, die wir verdrängen, verstecken – nicht wahr haben wollen.
Die Psychologin und Buchautorin Verena Kast hat die Bedeutung der Schatten – und deren Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit – tiefenpsychologisch untersucht. Die Schweizer Professorin stellt die These auf:
Wer seine Schatten kennt und annimmt, kann in seinem Charakter reifen.
Doch die Realität sieht oft anders aus. Viele Menschen sind nicht in der Lage, einen anderen Standpunkt einzunehmen, als den eigenen. Politdiskussionen im Fernsehen zeugen jeden Sonntagabend davon. Eine Langzeitstudie der Universität Otageo kommt zudem zum Ergebnis: Der Mensch ist schon mit drei Jahren charakterlich festgelegt. Seine Lebenskurve folgt einer Art innerem Programm.
Das bestätigt auch die moderne Neurowissenschaft: Das Gerüst, die neuronalen Bahnen im Gehirn, verzweigen sich im Kindesalter.
Weil das Gehirn einen entspannten Zustand anstrebt, gehen wir immer wieder dieselben, ausgetretenen Pfade.
Die gute Nachricht: Das Gehirn ist ein permanent lernendes System. Jede markante Erfahrung verändert die synaptischen Verschaltungen. Neue Erfahrungen führen also zum Ausbau der Netzwerke. „Neuronale Plastizität“ nenne das Hirnforscher. Und die geht ein Leben lang weiter.
Der Mensch kann durch Erfahrungen und Lernen an seiner neuronalen Architektur permanent bauen.
„Schattenakzeptanz bringen einen Zuwachs an Selbsterkenntnis, Vitalität, Toleranz sich selber und den anderen gegenüber“, fasst Kast zusammen und belegt die Ergebnisse der Hirnforschung.
Ein Beispiel aus unserem Trainingsalltag: Ein Teilnehmer ist verärgert darüber, dass ein anderer die Leitung des Abends übernommen hatte. Er stellt sich damit in den Mittelpunkt, so die Projektion des Verärgerten. In der folgenden Prozessarbeit erkennt er, dass er sich oft bescheiden gibt. Darin liegt für ihn der Erkenntnisgewinn: Er lehnt den Leiter des Abends ab, weil sein Bedürfnis nach mehr Aufmerksamkeit ein Schattendasein fristet.
Hinter seiner Verachtung steckt also das Begehren nach Beachtung.
Menschen mögen sich verändern, wenn zwei große Kräfte das Spielfeld betreten: Liebe und Leid. Wird ein Mensch immer wieder von Partnern ausgenutzt und verlassen, fragt er sich: Wieso ich? Aber viel wichtiger ist die Frage: Was sind meine Anteile daran? Krisen ermöglichen Reifungsprozesse. Wenn wir dieser Entwicklung trotzen, verkalkt unsere Persönlichkeit. Unseren Charakter formen in der ersten Lebensphase Eltern, Geschwister, Freunde und Lehrer.
Die zweite Erziehung geht von uns selbst aus. Sie macht uns reif und souverän.