Wie wir besser mit aufdringlichen Personen umgehen können
Sandra ist ratlos. In ihrem Job als Rezeptionistin gerät sie oft in Stress. Wenn sie am Empfang mit Gästen deren Aufenthalt bespricht und Details erfährt, drängeln sich wieder und wieder andere Gäste vor. Sie stören das Gespräch und sind übergriffig. Etwa, indem sie Sandra vorwerfen langsam zu arbeiten.
In einem Seminar für Hotelmitarbeiter habe ich kürzlich mit Sandra gearbeitet. Ihren richtigen Namen schreibe ich hier nicht, denn die Coachings sind vertraulich und auch die Szene ist deshalb leicht verändert.
So läuft der Prozess
Ich lade Sandra ein, aus dem Stuhlkreis mit 16 Teilnehmern aufzustehen und sich aus den Anwesenden einen Stellvertreter zu suchen, der so einen aufdringlichen Kunden darstellen könnte. Sie tut es und als die Stellvertreterin vor ihr steht, bitte ich Sandra zu formulieren, welche Worte von dem Störer ausgehen.
Zuerst kommen die Sätze, die Sandra im Alltag tatsächlich hört: „Geht das nicht schneller?“, „Kann ich kurz stören?“, „Wie lange dauert das denn noch hier, ich muss noch zu einem Meeting?“
Ich bitte Sandra zu präzisieren, was für Botschaften sie hört. Nach kurzer Abstimmung und Vorschlägen von mir als Trainer, lauten diese: „Du kannst das nicht“ und „Du bist es nicht wert“. Als die Stellvertreterin diese beiden Sätze wiederholt und Sandra sie hört, wird sie wütend. „Ja genau, das ist es!“ ruft sie.
Ich bitte sie, diese Wut in ihrem Körper zu spüren und sie zu beschreiben. Sie erklärt uns, dass da ein dicker schwarzer Brocken im Magen liegt und sie wie blockiert. „Das tut weh und ist hässlich“, sagt sie. Ich bitte Sandra dieses als Botschaft in einem Satz zu sagen. „Wenn du so mit mir redest, fühle ich mich klein und das macht mich wütend. Sei Still!“, ruft Sandra.
Kontakt mit dem Gefühl
Ich bitte sie nun, sich eine Stellvertreterin für sich selbst zu suchen, diese hinter sich zu stellen und dann die Position der Kundin einzunehmen. Das tut sie, indem sie sich vor die Kundin stellt. Ich bitte beide Frauen, die nun hintereinanderstehen, Kontakt aufzunehmen. Dies geschieht, indem die Kundenstellvertreterin ihre Hände auf Sandras Schultern legt.
Der Sandra-Stellvertreterin zugewandt bitte ich diese, Sandras´ Worte zu wiederholen: „Wenn du so mit mir redest, fühle ich mich klein und das macht mich wütend. Sei Still!“. Sandra hört nun ihren eigenen Satz aus der Perspektive der drängelnden Kundin. Das berührt sie. Auf meine Frage, welches Gefühl Sandra wahrnimmt, sagt sie: „Trauer“. Nun darf Sandra in der Rolle der Kundin einen Satz sagen: „Wenn du so mit mir redest, macht mich das sehr traurig.“ Für die Teilnehmerinnen im Stuhlkreis ist das ersichtlich, weil Sandra glasige Augen bekommt. Später in der Sharing-Runde, werden sie bestätigen, dass auch sie Sandras Gefühle, die Wut und die Trauer, bei sich gespürt haben.
Ich bitte Sandra wieder auf ihre Position als Sandra zu gehen und Kontakt mit ihrer Stellvertreterin aufzunehmen. Danach wiederholt die Kundin Sandras Satz: „Wenn du so mit mir redest, macht mich das sehr traurig.“ Ich frage Sandra, ob sie die Trauer der Kundin spüren kann, sie bejaht das.
Wenn die Wut geht … und die Freude kommt … geht es um Macht
„Wie geht es dir damit?“, frage ich Sandra, „was ist mit deiner Wut?“. Die sei weg, stattdessen nimmt Sandra die Kundin in ihrem Gefühl war. „Was macht das mit dir, Sandra?“, frage ich. Sandra zögert etwas, beginnt verschämt zu lächeln. „Was ist das für ein Lächeln?“, frage ich sie. Sandra antwortet: „Es ist komisch, aber ein bisschen freue ich mich.“ „Deine Freude ist herzlich willkommen“, sage ich zu Sandra. Und ich möchte wissen, ob sie eine Vermutung hat, woher diese Freude kommt. „Ja“, sagt Sandra. Ein bisschen schäme sie sich dafür.
Ich sage: „Ich mache dir mal ein Angebot: Kann es sein, dass ein Teil in dir das wie ‚genießt‘, dass du einerseits beschämt wirst und fast zur gleichen Zeit eine Grenze setzt?“. Sandra nickt. „Um was geht es hier wirklich?“ frage ich die Rezeptionistin. Sie zuckt mit den Schultern. Im Auditorium wird es unruhig. „Geht es um Macht?“, frage ich sie. Sandra nickt erneut und aus dem zarten Lächeln wird ein Grinsen, ein Lachen. „Ja irgendwie schon auch“, sagt sie.
Endlich raus aus dem Drama
Sandra kann durch ihre Prozessarbeit sehen, dass sie die Rolle des Opfers in ihrem Arbeitsalltag eigenständig wählt. Sie erkennt, dass sie Kundinnen Macht über sich gibt. Diese Sie überrumpeln dürfen. Und dass Sandra diese Position auch genießt. Zumindest ein Teil von ihr.
Wie kommen wir also aus dem Drama heraus? Indem wir anerkennen, dass ein Teil von uns die Position des Opfers wählt. Bei allem Widerstand gegenüber Übergriffen. Und ich rede hier NICHT von sexuellen Übergriffen, wie in der #Metoo-Debatte. Sondern um die verbalen Dinge des Alltags. Von Frau zu Mann, von Mann zu Frau, von Frau zu Frau und von Mann zu Mann. Und umgekehrt und alles dazwischen.
Wir können aus dem persönlichen Drama aussteigen, indem wir uns unserer Rolle bewusstwerden und anerkennen, dass wir freiwillig da sind – auch weil es uns gefällt da zu sein. In diesem Moment ist der Ausstieg möglich und ein Leichtes.