Wenn es um Haltung statt um Technik geht
Esmeralda hob sich ihre Kritik bis zum Schluss auf. Die 35-jährige Portugiesin sitzt vor einigen Wochen in meinem Seminar. Adrett gekleidet und akkurat frisiert hat die gelernte Hotelfachfrau sich mit fünf Minuten Verspätung in die Runde geschlichen. Die restlichen Teilnehmer checken gerade in den Tag ein. Nehmen sich und ihr vorherrschendes Gefühl heute zum ersten Mal war.
Esmeralda setzt sich in den Stuhlkreis aus nun 19 Teilnehmern. Sie wirkt irritiert. Diese Irritation wird ihr Blick und ihr Körper den ganzen Seminartag lang nicht verlassen. Während wir verschiedene Übungen und kleine Prozessarbeiten absolvieren, funkt Esmeralda immer wieder übellaunig dazwischen.
Starker Tobak
Etwa als eine Teilnehmerin sich in einem Positionswechsel in die Lage und Gefühle ihres Chefs einspüren will und die Südländerin es nicht schafft, bei sich zu bleiben. Sie nimmt sich Raum, indem sie der Arbeitenden unerbetene Ratschläge gibt und immer wieder darauf besteht, dass man doch so nie und nimmer fühlen oder denken könne.
Zugegeben, unsere Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung sind nicht ohne.
Manche sagen sogar, sie seien anstrengend. Wir graben mitunter tief. Es geht ums Unbewusste. Um die Schatten der Seele. Um das, was wir verdrängen, nicht wahr haben wollen oder, was uns einfach nicht bewusst ist. Wir setzen beim Einzelnen an, helfen ihm oder ihr, die Dinge ans Licht zu holen. zu transformieren. Es bewusst zu machen. Geben aber keine ultimativen Tipps, wie Frau oder Mann eine Lebenslage garantiert meistern kann. Davon sind Ratgeberbücher und -seiten bereits voll.
Unsere Art der Begleitung setzt direkt am Thema an. Denn ihn jedem von uns ist die Lösung für sein Problem bereits angelegt. Ich helfe nur, diese freizulegen. Esmeralda hat das leider nicht verstanden. Was nicht schlimm ist. Doch die schicke Teilnehmerin beraubt sich eines schönen Tages. Für sie wäre es an diesem Samstag vermutlich besser gewesen, in der warmen Sonne zu sitzen und Cappuccino zu schlürfen, statt im etwas kühlen Seminarraum mit dem inneren Drachen zu ringen.
No Ratschlag today
Sie hatte sich etwas anderes erwartet. Und ungeduldig den ganzen Tag damit verbracht, darauf zu warten, dass es nun endlich passiert. Dass sie die Wahrheit erfährt. Den einen Ratschlag bekommt, den sie morgen umsetzen kann – und der ihr Leben verändert. Doch sie wurde enttäuscht.
Dabei waren auch für Esmeralda genügend Chancen im Seminar da. Einmal wurde sie als Stellvertreterin in einen Prozess geben. Doch statt ins eigene Gefühl zu gehen, der arbeitenden Teilnehmerin als Projektionsfläche zu dienen und zu lernen, blieb sie im Kopf, in ihren Urteilen haften.
Sie schaffte es nicht, sich einzulassen.
Vielleicht hätte ihr eine Tonne geholfen. Die hat einmal ein US-amerikanischer Trainer, bei einem Seminar das ich besuchte, in die Ecke des Raumes gestellt. Die Tonne war für alle Vorurteile gedacht. Die sollten die Teilnehmer zu Beginn und während des Seminars dort (freiwillig) hineinrufen. Immer wieder stand ein Mann auf, ging zur Tonne, um seinen Verstand zu erleichtern.
Vorurteil zum Mitnehmen
Vincent, der Trainer, erklärte, dass die Vorurteile nicht weg wären, wenn sie in die Tonne gerufen würden. Jeder können seine oder die Urteile eines anderen Teilnehmers gerne am Ende des Tages wieder herausholen und mit nach Hause nehmen. Keiner tat ihm den Gefallen.
Und Esmeralda? Sie packte in der Schlussrunde, nachdem sie mehr als acht Stunden (!) im Seminar gesessen hatte, ihrem Unmut Luft: „Ich hatte das Gefühl, im falschen Seminar zu sitzen“, schleuderte sie mit lässiger Handbewegung in die Runde. Gut, dachte ich, dann bist du ja doch noch in deinem Gefühl angekommen. Ein Anfang.