Umgang mit Vorgesetzten
Timo steigen die Tränen in die Augen. „Das habe ich nicht erwartet“, sagt der Wirtschaftsinformatiker im Einzelcoaching beim lebensberater. Der 44-jährige Mainzer wollte herausfinden, wieso er in Meetings immer wieder aggressiv auf Einwände seines Chefs reagiert.
„Ich habe detaillierte Kostenpläne ausgearbeitet, um zu zeigen, wann und wie wir in die Gewinnzone kommen“, berichtet Timo. Doch Thomas würdigt diese Anstrengung nicht. Der Chef, mit dem Timo per Du ist, greift stattdessen zwei Zahlen aus der Analyse heraus und stempelt die komplette Kalkulation als fragwürdig ab.
Perspektivwechsel
Timo fühlt sich angegriffen und schießt zurück. Im Meeting herrscht betretenes Schweigen. Der Ton wird schärfer und am Ende fegt Chef Thomas das Projekt vom Tisch.
Als Timo im Coaching die Situation noch einmal in einem Perspektivwechsel erlebt, staunt er. Bei einer sogenannten Stuhlarbeit wechselt Timo die Position. Zuerst sitzt er auf seinem Stuhl, ihm gegenüber steht ein leerer Platz. Timo erzählt die Streitsituation mit seinem Chef von seinem Stuhl aus. Seine zentrale Botschaft an Thomas lautet: „Wir sind doch Freunde, ich will mit dir auf Augenhöhe reden können – und nicht wie dein kleiner Angestellter behandelt werden.“
Auf meine Bitte einmal die Perspektive seines Chefs einzunehmen, wird ihm klar, was sich in den zurückliegenden 20 Jahren verändert hat. So lange arbeiten Timo und Thomas schon in der gleichen Firma. Als Studienfreunde im Unternehmen gestartet, verliefen ihre beruflichen und persönlichen Wege unterschiedlich. Zwar war Thomas von Beginn an Chef und Timo Bereichsleiter, doch ihre Freundschaft hat sich verändert.
Beruf und Privat trennen
Nachdem Timo auf dem Stuhl des Chefs (Thomas) hört, dass sein IT-Experte (Timo) sich einen freundschaftlichen Umgang wünscht, antwortet Thomas: „Ich trenne Beruf- und Privatleben. Schon lange. Wenn wir im Büro reden, dann ist Business-Zeit. Bitte akzeptiere das.“
Timo hört sich diesen Satz sagen. Er spürt, auf Thomas Stuhl sitzend, was dieser ihm jeden Tag im Büro vermittelt. Als Timo wieder auf seinen Platz zurückkehrt, weicht sein Erstaunen einer Klarheit. „Ich mache es ja genauso“, sagt er. Früher habe er seine komplette IT-Abteilung zum Grillen nachhause eingeladen. Doch mit der Zeit hatte er keine Freude mehr an diesen Festen. Viel Aufwand und immer weniger Kollegen folgten der Einladung.
Raum für verdrängte Trauer
„Irgendwann habe ich es dann gelassen“, resümiert Timo. Seither trennt er Job und Privates. Genau wie Thomas. Diese Einsicht macht den stattlichen Mann und früheren Leistungssportler traurig. Vorbei sind die Zeiten studentischer Unbekümmertheit. Verpflichtungen im Beruf und Familie haben den Männern immer weniger Raum für die Pflege der alten Freundschaft gelassen oder sie haben sie durch andere ersetzt.
Unbewusst hat Timo diese Veränderung geschmerzt. In der Prozessarbeit mit dem imaginären Chef Thomas hat er sich diese Trauer erarbeitet, die er im Alltag nie bewusst gefühlt und damit transformiert hat.
Keine Trigger-Momente mehr
Als ich Timo vier Wochen später wieder im Coaching erlebe, wirkt er viel gelöster, als wir über die Beziehung zu seinem Chef reden. „Neulich kam Thomas in mein Büro, was bisher nie vorgekommen ist, und wir haben etwas Fachliches besprochen“, berichtet der IT-Mann. Danach habe der Chef nach Timos neuem Auto gefragt. Und es hat sich ein Gespräch entsponnen, wie früher, wie unter Freunden. Auch berichtet Timo, dass er in den Meetings cool auf Einwände reagiert und keine Trigger-Momente mehr spürt, wenn Thomas nachfragt.
Die Klarheit, die sich Timo über seinen Prozess und den Zugang zu seinem vergrabenen Gefühl (der Trauer), erarbeitet hat, strahlt er im Büro aus. Das nimmt auch sein Chef (unbewusst)war. Und offensichtlich hat sich die Beziehung der beiden geklärt. Auch wenn nur einer daran gearbeitet hat: Timo.