Therapeut braucht Persönlichkeit
Mit großem Gewinn lese ich aktuell „Gefühle sind keine Krankheit“ von Dr. med. Christian Peter Dogs. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychosomatik, der in einem Kapitel schonungslos über seine brutale Kindheit schreibt, spricht mir vollkommen aus dem Herzen. Wenn er etwa über inkompetente Therapeuten urteilt, die mehr ihr eigenes Auskommen im Blick haben als das Wohl ihrer Klienten.
Wenn er ein Gesundheitssystem kritisiert, in dem bis zu 300-stündige Therapien bezahlt werden, die zu Plauderstunden verkommen und Akut-Patienten die dringend benötigten Plätze und Kapazitäten versperren. Fast bleiben mir die Zeilen in den Augen stecken, wenn er sich über den Dogmatismus lustig macht, mit dem sich unfähige oder faule Therapeuten auf eine sterile Zuhörerrolle zurückziehen und nicht mit ihrem Klienten empathisch und lösungsorientiert in Resonanz gehen.
Mehr Gelassenheit in der Therapie
„Gefühle sind keine Krankheit“ ist ein Plädoyer für mehr Gelassenheit auch in der Krise. Denn diese ist nur ein Aspekt einer Biographie oder Vita, die nicht den gesamten Menschen auf Dauer fluten darf. Aber auch der Appell, nicht jedes Problem sofort therapieren zu wollen, sondern den Selbstheilungskräften jedes Menschen samt seinem sozialen Umfeld etwas zuzutrauen.
Kenntnisreich spiegelt der Autor, dass mancher Arzt seinem Klienten den eigenen Perfektionismus überstülpt, indem er ihn nicht loslässt und ihm nicht sein Los lässt, sondern meint, jede Marotte begradigen zu müssen. So habe Reinhold Messner auch niemand eine Krankheit diagnostiziert, nur weil er sich immer wieder in Lebensgefahr begab mit seinen Expeditionen.
Dr. Dogs hat mit Co-Autorin Nina Poelchau erfrischende 230 Seiten Lektüre vorgelegt, die leicht verdaulich tiefe Einblicke in die Therapieszene gewähren und dabei viel Wissenswertes über Grundgefühle wie Angst oder Trauer oder die verschiedenen Varianten von Depressionen und anderen Krankheitsbildern transportieren. Das im Ullstein-Verlag erschiene Buch teilt kräftig aus, leistet aber einen wertvollen Beitrag zur Entkrampfung dieser Tabu-Szene.
Querköpfe als Therapeuten
Quereinsteiger wie ich oder mein Partner Michael Sudahl, die wir uns zuvor teils 20 Jahre in soliden Berufen bewährt, Krisen gemeistert und auf die Therapeutenarbeit – ohne Studium – in jahrelanger Praxis vorbereitet haben, adelt Dogs geradezu. Denn er hebt auf die Persönlichkeit des Therapeuten ab, der seine Energie und Kreativität dem Klienten leiht, ihn beruhigt, bestärkt – und letztlich liebt.
Denn gelegentlich werde ich gefragt, woher ich das Recht oder den Mut nehme, mit Klienten zu arbeiten, wo ich doch weder Medizin noch Psychologie studiert hätte. Dabei verkennen die Frager, dass ich mich in 6000 Stunden Selbsterfahrung, Ausbildung und Training bewährt habe, während der Akademiker im Zweifel von dem allem nichts hat. Mein Theologie-Studium besagt ja auch nichts über meine religiöse Praxis.
Und mein Ausbilder, dem ich noch heute unendlich dankbar bin für die Verwirrung, die er in mir zunächst auslöste, sagte mehrmals: „Leo, ob Du als Therapeut arbeitest, entscheidet der Markt.“ Und er glaubte schon damals an mich, als ich noch voller Zweifel war. Recht hatte er, dieser Menschenfreund und –kenner, der auch ein Querkopf war und ist.